Rede zur Setzung des zweiten Steins von Dr. Gerald Jasbar, Ulm
am Samstag, 06. September 2003
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, das Gründungsjubiläum einer Stadt feiern. Mit der Idee, eine Zeitpyramide zu setzen, gingen der Künstler Manfred Laber und die Stadt Wemding einen außergewöhnlichen Weg.
Manfred Laber ist ein Künstler, der zwei Voraussetzungen mitbringt, die gute Kunst garantieren: Intellekt und Phantasie. Die Wemdinger Zeitpyramide dürfte in Labers Schaffen eine besondere künstlerische Station markieren. Es ist ja nicht nur die Idee, die man für ein solches großes Projekt mitbringt, es sind vor allem die vielen großen und kleinen Hindernisse, die beiseite geräumt werden müssen, um die Idee in die Tat umzusetzen. Dazu gehört Zielstrebigkeit, Beharrlichkeit, ein guter Schuss an Optimismus und nicht zuletzt Verhandlungsgeschick. Offenbar waren diese Eigenschaften überreichlich vorhanden. Der Künstler darf nun zufrieden zurück blicken - und die Stadt Wemding ist um eine Attraktion reicher geworden.
Was ist eine Zeitpyramide? Der Titel ist für dieses Objekt ganz bewusst gewählt worden. Das Wort setzt sich aus zwei Begriffen zusammen, Zeit und Pyramide. Beide reflektieren das, worum es bei einer Gedenkfeier geht. Um den Rückblick, aber auch um die Zukunft auf der einen Seite, um das Denkmalhafte des in Form einer Pyramide zur Anschauung Gebrachte andererseits.
Bleiben wir bei dm Begriff Zeit. Er ist ein Abstraktum, der sich nur im Ablauf der Geschichte dingfest machen lässt, an Veränderungen und Bewegungen.. Nach Emanuel Kant ist die Zeit ein objektive Größe, ein Begriff a priori, sie ist einfach gesetzt, man braucht sie nicht zu beweisen. Es gibt aber auch die subjektive Zeit. Es ist die vom Subjekt erlebte, und hier gibt es höchst anschauliche Beispiele aus der Literatur: das Geschehen im Ulysses von James Joyce, auf hunderten von Seiten ausgebreitet, handelt nur von einem einzigen Tag. Die Trägheit der Zeitablaufs wird exemplarische im 1. Kapitel des Zauberbergs von Thomas Mann geschildert, Marcel Proust lässt in seinem vielbändigen Werk A la recherche du temps perdu Augenblicke der Vergangenheit lebendig werden, ob nur durch einen Geruchsstoff oder eine typische Geste in der Gegenwart ausgelöst. Die Beispiele ließen sich fortsetzen.
Die einzige Kunst, die sich durch Zeit kategorial definiert, ist die Musik. Wie steht es aber mit der bildenden Kunst? Ein Kunstwerk ist naturgemäß statisch, Begriffe wie Bewegung, Zeit, Raum usw. sind Metaphern für das, was mit dem Werk assoziiert wird. Zu einem zentralen Thema wird die Bewegung - und damit der Zeit - in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Als Beispiel dafür mögen die Mobiles, wie überhaupt die Werke der kinetischen Kunst stehen.
Die Zeitpyramide Manfred Labers geht über die Versuche, im Kunstwerk reale Bewegung in einem zeitlichen Ablauf zu demonstrieren, hinaus. Die Pyramiden, wie sie seit dem 3. Jahrtausend in Ägypten und Mittelalterika errichtet wurden, sind Monument für die Ewigkeit, gedacht als Grabstätten der Pharaonen oder als religiöse Tempel. Manfred Labers Projekt ist ein Kind des modernen Geistes. Es steht zwischen Denkmal und Utopie, sein Objekt lebt vom Dualismus der Materie und des Geistig-Visionären. Es ist nicht utilitaristisch, sondern ist eine Gedankenkonstrukt, dem jeder eingeengter Zweck fremd ist. Mit jeder Steinsetzung nähert sich - über einen riesigen Zeitraum hinweg - das Werk der Vollendung. Dieser Prozess ist im übertragenen Sinn eine Metapher für die Zukunft. Diese Zukunft bringt nur Ungewissheit, aber die Zeitpyramide ist ein Ort von Zuversicht und Hoffnung. Es gibt kein Scheitern, wie es auch kein Scheitern unserer Zukunft gibt. Von dieses futuristischen Gedanken abgesehen, ist die Pyramide, einem Januskopf vergleichbar, auch Zeuge für Geschichte und Vergangenheit. Das Treffen alle 10 Jahre mit einer neuen Steinsetzung lässt uns innehalten, vielleicht über die Dinge reflektieren, die wir im zurückliegenden Dezennium erlebt haben. Auch die Steine der Pyramide sind gezeichnet von Spuren der Vergangenheit, mit all ihren Abschürfungen und Schrunden. So ist die Pyramide in einen Dualismus verstrickt. Ideales Symbol für die Ewigkeit, aber zugleich Materie, die irgendwann der Veränderung und schließlich dem Zerfall der Geschichte anheim gegeben ist.
Zurück zu Manfred Laber. Seine Pyramide ist kein Zufallsprodukt, sie ist ein logisches Konstrukt seiner künstlerischen Arbeit, in der Zeit und Natur einen besonderen Stellenwert einnehmen.
Der 1932 in Wemding geborene, hier und in Alcanar bei Barcelona lebende Künstler verlässt seit dem Ende der 1970er Jahre die traditionellen Pfade von Malerei und Skulptur und wendet sich einem künstlerischen Konzept zu, das Landschaft, Zeit, Kunst und Ästhetik gleichermaßen mit einschließt. Manfred Laber spricht von "Farbverwitterungskonzepten in der Landschaft". Ein Beispiel: Ganze Serien von Stahlblechtafeln, die farbig beschichtet sind, werden im Freien den klimatischen Bedingungen ausgesetzt: Sonne, Regen, Staub, chemisch kontaminierte Luft usw. Thema ist also die Veränderung in der Zeit, aber auch die gleichzeitige sukzessive Verwandlung der Objekte in etwas Neues, von Spuren der Zeit Gezeichnetes. Man kann das als destruktiven Prozess bezeichnen, andererseits aber auch als Progression zu etwas immerwährenden ästhetisch Neuem. Nicht der Künstler allein ist also der Demiurg, d.h. Schöpfer, sondern die Natur selbst. Das Ergebnis lässt sich nicht vorausberechnen, das Prinzip des Zufalls bestimmt die Objekte in ihrer ständigen Verwandlung. Insofern sind diese Werke auch Gleichnis für die Evolution von Mensch und Natur, die sich jeder mathematischen Logik entzieht, in der das eben noch Festgeschriebene eine unentwegte Metamorphose erlebt. Würde man das kunsthistorische Schubladendenken hier anwenden, so ergäben sich Bezüge zur Land Art. In der Regel greift hier der Künstler in die Natur selbst ein, gestaltet und verfremdet sie. Manfred Laber beschreitet einen anderen Weg. Landschaft und Natur sind für ihn das Medium, seine eigenhändig geschaffenen Artefakte einem Veränderungsprozess auszusetzen. Einher geht eine positive Störung der Landschaft, die durch den künstlerischen Eingriff eine neue Wertigkeit erfährt. Zwischen grünen Wiesen, Büschen und Bäumen entfalten die Tafeln eine differenzierte Farblandschaft, setzen einen Kontrapunkt und fügen sich doch synthetisch in die Natur ein. Immer bleibt im Blickpunkt der Wandel in der Zeit, sowohl der Natur als der darin integrierten Objekte. Mit dem herkömmlichen Begriff der Vollendung wird man diesen Objekten nicht gerecht. Jeder Augenblick der Gegenwart bedeutet Vollendung, zugleich aber auch Offenheit für das Mögliche - ein immerwährendes Spiel von Gewissheit und Ahnung. Zu bewundern sind diese Objekte auf der Insel San Antonio in Spanien, auf der Finca des Künstlers in Alcanar bei Barcelona oder im Skulpturenpark von Mormoiron in Frankreich.
Lassen Sie mich zusammenfassen. Drei glückliche Konstellationen zeichnen dieses Projekt aus: Ein Künstler, der aus eben der Stadt stammt, die ihr Jubiläum feiert, eine Stiftung, die mit Engagement das Projekt am Leben erhält, schließlich ein mathematisches Zahlenspiel. Der erste Stein wurde 1993 gesetzt zum 1200-jährigen Jubiläum der Stadt. Die projektierte Pyramide besteht aus 120 Blöcken. Jeder Block, im Rhythmus von 10 Jahren hinzugefügt, bedeutet, dass in exakt 1200 Jahren, vom Zeitpunkt der ersten Steinsetzung gesehen, dieses architektonische Wunderwerk vollendet sein wird. Möge diese Pyramide zum Wohl der Stadt ein Anziehungspunkt für die Menschen werden, wie es die wunderbare Wallfahrtskirche seit Jahrhunderten ist.